Prozesse gegen ROG Türkei-Korrespondent und andere Journalisten gehen weiter: Überblick über die wichtigsten Fälle
(Diese Meldung auf der ROG-Webseite: http://t1p.de/4fxy)
20.03.2017 – Reporter ohne Grenzen (ROG) fordert die türkische Justiz auf, die absurden Anschuldigungen gegen den langjährigen Türkei-Korrespondenten der Organisation fallenzulassen. Das Verfahren gegen Erol Önderoglu geht am (morgigen) Dienstag in Istanbul weiter. Mit ihm auf der Anklagebank sitzen die Vorsitzende der Türkischen Menschenrechtsstiftung, Sebnem Korur Fincanci, und der Cumhuriyet-Kolumnist Ahmet Nesin. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen wegen der Teilnahme an einer Solidaritätsaktion für die pro-kurdische Zeitung Özgür Gündem „Propaganda für eine terroristische Organisation“ vor.
„Erol Önderoglu sollte für seinen mutigen Einsatz belohnt und nicht verfolgt werden. Die hohe Zahl der Verhaftungen und Medienschließungen zeigen, wie wichtig sein Kampf für Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei ist“, sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. „Gerade vor dem umstrittenen Referendum braucht die Türkei eine pluralistische Medienlandschaft und unabhängige Journalisten, die die Bevölkerung umfassend informieren.“
INTERVIEWANGEBOT: ROG-Pressereferentin Anne Renzenbrink wird den Prozess gegen Erol Önderoglu in Istanbul verfolgen und steht dort nach der Sitzung des Gerichts für Interviews zur Verfügung. Sie ist am Dienstag unter der Telefonnummer +49 (0) 151-5663 1806 erreichbar.
RECHT AUF MEINUNGSFREIHEIT AUSGEÜBT
Önderoglu, Fincanci, und Nesin waren am 20. Juni in Istanbul verhaftet worden. Nach internationalen Protesten unter anderem durch den damaligen UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon (http://t1p.de/vwsy ) waren sie nach zehn Tagen unter Auflagen freigelassen worden. Sie hatten mit Dutzenden weiteren Journalisten und Prominenten jeweils symbolisch für einen Tag den Posten des Chefredakteurs von Özgür Gündem übernommen, um ihre Solidarität mit der Zeitung zu demonstrieren, die bereits unter wachsendem Druck der Behörden stand (http://t1p.de/q6h3). Ende Oktober wurde das Blatt per Regierungsdekret geschlossen. Der Chefredakteur der Zeitung, Inan Kizilkaya, ist seit August in Haft (http://t1p.de/12tj).
Zu Prozessbeginn am 8. November in Istanbul hatte Önderoglu die Anschuldigungen gegen ihn zurückgewiesen und betont, er habe nur sein Recht auf Meinungsfreiheit ausgeübt (http://t1p.de/8pp4). Den Antrag der Verteidigung, die Anklage fallen zu lassen, lehnte das Gericht ab. Bei der Fortsetzung des Prozesses am 11. Januar wurde das Verfahren gegen Chefredakteur Kizilkaya von dem Verfahren gegen Önderoglu, Fincanci, und Nesin abgetrennt (http://t1p.de/dg01).
ERSTE URTEILE NACH SOLIDARITÄTSAKTION
Insgesamt nahmen mehr als 50 Menschen von Mai bis August 2016 an der Solidaritätsaktion für Ozgür Gündem teil, 38 von ihnen stehen vor Gericht (http://t1p.de/4bgz). Bisher wurden 13 verurteilt. In den meisten Fällen erhielten die Angeklagten Haftstrafen auf Bewährung (http://t1p.de/gft7). Mitte Januar verurteilte ein Gericht in Istanbul die ersten beiden Angeklagten. Der Menschenrechtsaktivist Sanar Yurdatapan und der Verleger Ibrahim Aydin Bodur erhielten wegen angeblicher Terrorpropaganda 15 Monate Haft auf Bewährung und eine Geldstrafe von 6.000 Lira (1.500 Euro) (http://t1p.de/dg01).
Der Prozess gegen Unterstützer der Zeitung Özgür Gündem reiht sich in eine lange Liste von Prozessen gegen Journalisten in der Türkei. Mehr als 80 Journalisten sitzen im Gefängnis, weil die Behörden ihre Medien als Unterstützer des im US-Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen betrachten, den Präsident Recep Tayyip Erdogan als Drahtzieher des Putschversuchs bezichtigt (http://t1p.de/ievg). Insgesamt sitzen in der Türkei derzeit rund 150 Journalisten in Haft.
Das Verfahren gegen eine erste Gruppe der Inhaftierten von angeblich Gülen-freundlichen Medien wurde am 10. März eröffnet. Dabei handelt es sich um mehrere Journalisten aus der südtürkischen Provinz Adana, darunter Aytekin Gezici und Abdullah Özyurt, die zu Beginn ihres Prozesses schon fast acht Monate in Haft saßen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen „Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation“ vor, worauf bis zu zehn Jahre Haft stehen. Der Prozess wird am 7. April fortgesetzt. Am 27. März beginnt wegen des gleichen Vorwurfs der Prozess gegen weitere Journalisten, darunter Murat Aksoy und Atilla Tas (http://t1p.de/jtco).
WIDERSPRÜCHLICHE VORWÜRFE
Am 12. April wird zudem ein Urteil im OdaTV-Verfahren erwartet, das seit dem Jahr 2011 läuft. Den Angeklagten, darunter die prominenten Journalisten Ahmet Sik, Nedim Sener, Soner Yalcin, Baris Pehlivan und Baris Terkoglu (http://t1p.de/i0z9), wird vorgeworfen, der Medienarm des Geheimbunds Ergenekon zu sein (http://t1p.de/y82n). Der Investigativjournalist Sik gehörte zu den Reportern des mittlerweile geschlossenen Magazins Nokta (http://t1p.de/xfux), die den Ergenekon-Geheimbund aufdeckten und damit dessen strafrechtliche Aufarbeitung erst ermöglichten (http://t1p.de/rwq2).
Gleichzeitig wird Sik vorgeworfen, die Gülen-Bewegung und die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK unterstützt zu haben (http://t1p.de/y82n). Ende Dezember 2016 wurde er in Istanbul verhaftet. Sik hat gelegentlich für die oppositionelle Tageszeitung Cumhuriyet geschrieben. Elf Mitarbeiter der Zeitung sitzen in Haft. Die Behörden werfen ihnen eine Gülen-freundliche redaktionelle Linie vor (http://t1p.de/ievg). Die Gülen-Vorwürfe gegen Sik sind besonders absurd, denn 2011 und 2012 verbrachte er ein Jahr im Gefängnis, weil er den damaligen Einfluss der Bewegung des Predigers innerhalb des Staatsapparats kritisiert hatte.
Am 27. April geht das Verfahren gegen den im Exil lebenden Journalisten Can Dündar weiter. Der ehemalige Cumhuriyet-Chefredakteur sitzt mit Erdem Gül, dem Ankara-Büroleiter der Zeitung, wegen angeblicher Unterstützung einer terroristischen Organisation auf der Anklagebank. In einem anderen Verfahren wurden Dündar und Gül bereits im Mai wegen vermeintlicher Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen in erster Instanz zu fünf Jahren und zehn Monaten bzw. zu fünf Jahren verurteilt (http://t1p.de/x4yn). Gegen das Urteil haben beide Berufung eingelegt.
Am 22. Juni wird der Prozess gegen die Autorin Asli Erdogan fortgesetzt (http://t1p.de/ezbt). Sie saß bis Ende Dezember mehr als vier Monaten im Gefängnis. Asli Erdogan war Mitglied im Beirat von Özgür Gündem. Ihr wird unter anderem Propaganda für eine terroristische Vereinigung vorgeworfen. Sie ist chronisch krank und auf ärztliche Betreuung angewiesen (http://t1p.de/1wrk). In einem Interview berichtet sie, dass sie in Haft einige Male in einem Gefängnistransporter und in Handschellen in ein Krankenhaus gebracht worden sei, dort jedoch nie einen Arzt gesehen habe (http://t1p.de/m593).
WORTGLEICH KOPIERTE ANKLAGESCHRIFT
Mitte Februar waren Vertreter von Reporter ohne Grenzen und anderer Organisationen bei verschiedenen Verfahren gegen Journalisten als Prozessbeobachter vor Ort. Die Anklagen und Vorwürfe waren geprägt von Ungereimtheiten und suggerieren einen politischen Einfluss auf das Justizsystem (http://t1p.de/y82n). Im Verfahren gegen Journalisten der Zeitung Taraf etwa las sich die Anklageschrift als sei sie wortgleich von einem Fall gegen Can Dündar kopiert worden. Selbst sein Name stand noch im Text.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit stand die Türkei schon vor dem Putschversuch im Juli 2016 auf Platz 151 von 180 Staaten. Weitere Informationen über die Lage von Journalisten vor Ort finden Sie unter www.reporter-ohne-grenzen.de/
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