Vorwürfe gegen Journalistin Mesale Tolu endlich fallenlassen
Reporter ohne Grenzen (ROG) fordert die türkische Justiz auf, das Ausreiseverbot gegen Mesale Tolu aufzuheben und die konstruierten Vorwürfe gegen die Journalistin endlich fallenzulassen. Der Prozess gegen Tolu geht am Donnerstag (26.04.) in Istanbul weiter. Die Staatsanwaltschaft wirft der deutschen Journalistin laut Anklageschrift Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation und Terror-Propaganda vor. Ihr drohen bis zu 20 Jahre Haft. Tolu wurde Mitte Dezember nach mehr als sieben Monaten in Untersuchungshaft unter Auflagen freigelassen (http://t1p.de/ktm4). Sie darf die Türkei nicht verlassen und muss sich jeden Montag bei der Polizei melden.
„Trotz der Freilassung bleibt Mesale Tolu in den Augen der türkischen Staatsanwaltschaft eine Kriminelle, die wie viele andere Journalisten im Land einfach nur ihren Job gemacht hat. Solange Tolu das Land nicht verlassen darf, bleibt sie eine politische Geisel der türkischen Regierung“, sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. „Auch angesichts der Wahlen in zwei Monaten muss die Weltöffentlichkeit weiterhin in die Türkei schauen und die beispiellose Verfolgung kritischer Journalisten benennen. Durch die Freilassung von Deniz Yücel hat sich die Lage für Journalisten in der Türkei nicht verbessert.“
Der Prozess gegen Tolu begann am 11. Oktober 2017. Die deutsche Journalistin, die im Jahr 2007 die türkische Staatsbürgerschaft abgelegt hatte, war am 30. April 2017 in Istanbul festgenommen worden und saß ab dem 5. Mai im Frauengefängnis Bakirköy in Haft.
Die Staatsanwaltschaft wirft ihr unter Berufung auf einen anonymen Informanten vor, sie sei ein Mitglied der in der Türkei verbotenen marxistisch-leninistischen Partei MLKP und habe regelmäßig an Veranstaltungen des „Sozialistischen Frauenparlaments“ teilgenommen, des Frauenflügels der Partei. Allerdings räumte der anonyme Informant in seiner Aussage ein, Tolu nicht namentlich zu kennen.
Als Beleg für den Vorwurf der Propaganda für eine terroristische Organisation verweist die Anklageschrift auf Tolus Tätigkeit für die linke türkische Nachrichtenagentur Etha, die das Gedankengut der MLKP verbreitet habe. Die Etha-Website ist in der Türkei seit 2015 per Gerichtsbeschluss gesperrt, die Agentur arbeitet aber weiter.
Außerdem erwähnt die Anklageschrift Tolus Anwesenheit bei Veranstaltungen, zu denen die legale Gruppierung „Sozialistische Partei der Unterdrückten“ (ESP) aufgerufen hatte. Bei mindestens einer dieser Veranstaltungen – der Beerdigung zweier bei einem Polizeieinsatz getöteter mutmaßlicher MLKP-Aktivistinnen im Dezember 2015 – fungierte Tolu als Dolmetscherin für einen Journalisten und übte damit eine journalistische Tätigkeit aus.
Vergangene Woche wurde Haftbefehl gegen einen weiteren deutschen Mitarbeiter der Nachrichtenagentur Etha erlassen. Die türkische Justiz wirft Adil Demirci offenbar Terrorpropaganda vor (http://t1p.de/2ri6).
URTEIL GEGEN CUMHURIYET-MITARBEITER ERWARTET
Reporter ohne Grenzen fordert die türkische Justiz zudem auf, die 18 angeklagten Mitarbeiter der regierungskritischen Zeitung Cumhuriyet freizusprechen. Am Dienstag (24.04.) geht in Istanbul der Prozess gegen sie weiter. Cumhuriyet ist eine der ältesten Zeitungen in der Türkei und eines der wenigen noch verbliebenen unabhängigen Medien im Land, das nach dem Putschversuch im Juli 2016 nicht geschlossen wurde. Ein Urteil wird gegen Ende dieser Woche erwartet. Bei der letzten Verhandlung Mitte März forderte die Staatsanwaltschaft, 13 Mitarbeiter wegen “Unterstützung einer terroristischen Organisation“ zu verurteilen (http://t1p.de/gaxw). Darauf stehen bis zu 15 Jahre Haft. Unter ihnen sind der bekannte Investigativjournalist Ahmet Sik, der Kolumnist Kadri Gürsel, Chefredakteur Murat Sabuncu und der Geschäftsführer Akin Atalay.
Atalay ist der einzige Angeklagte, der bis zu einem Urteil nicht vorläufig entlassen wurde. Er sitzt bereits seit über 500 Tagen in Untersuchungshaft. In den Augen der Justiz besteht Fluchtgefahr, obwohl Atalay freiwillig in die Türkei zurückgekehrt war, als seine Kollegen im Oktober 2016 verhaftet wurden (http://t1p.de/14y9).
Die Staatsanwaltschaft forderte Mitte März zudem, den Cumhuriyet-Buchhalter Emre Iper auf Basis seiner Tweets wegen „Terrorpropaganda“ zu verurteilen, die Angeklagten Turhan Günay, Günseli Özaltay und Bülent Yener freizusprechen, die Amtsmissbrauch-Vorwürfe gegen einige Mitarbeiter fallenzulassen und die Verfahren gegen Can Dündar und Ilhan Tanir, die mittlerweile im Ausland leben, separat zu verhandeln.
Die türkische Justiz wirft den Mitarbeitern der Zeitung eine „radikale Veränderung der redaktionellen Ausrichtung“ vor, um die Ziele der in der Türkei als terroristische Organisationen eingestuften religiösen Gülen-Bewegung, der militanten kurdischen Untergrundbewegung PKK und der linksextremen Splittergruppe DHKP/C zu unterstützen. An den drei ideologisch völlig konträren Gruppierungen hat Cumhuriyet stets deutliche Kritik geübt (http://t1p.de/zilt). Die Anklageschrift ist von sachlichen Fehlern durchzogen und stützt sich vor allem auf falsche Interpretationen von Zeitungsartikeln sowie auf Kontakte zwischen Journalisten und ihren Informanten.
Reporter ohne Grenzen hat dem Gericht in Istanbul ein Rechtsgutachten (Amicus-Brief) vorgelegt. Darin kritisiert die Organisation, dass das Recht der Angeklagten auf einen fairen Prozess und auf freie Meinungsäußerung verletzt wurde.
WAHLEN IM AUSNAHMEZUSTAND
Vergangene Woche kündigte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan vorgezogene Neuwahlen an. Statt im November 2019 wählt die Türkei Parlament und Präsident nun schon am 24. Juni (http://t1p.de/u8io). Damit werden die Wahlen im Ausnahmezustand abgehalten, der Mitte April zum siebten Mal verlängert wurde (http://t1p.de/msif). Nach der Verkündung des Ausnahmezustands im Sommer 2016 wurden weit über 100 Journalisten verhaftet und rund 150 Medien geschlossen. Statt rechtsstaatlicher Verfahren fällt die Justiz Willkürentscheidungen und hält Journalisten mit Hilfe von Untersuchungshaft systematisch über längere Zeiträume fest, obwohl diese Maßnahme nur in Ausnahmefällen verhängt werden sollte. Im März wurde bekannt, dass die Dogan-Mediengruppe, zu der unter anderem die auflagenstarke Zeitung Hürriyet und der Fernsehkanal CNN Türk gehören, an einen regierungsfreundlichen Konzern verkauft wird (http://t1p.de/euyu).
Welche Auswirkungen diese massive Einschränkung der Medienfreiheit im Wahlkampf haben kann, zeigte sich vor rund einem Jahr beim Referendum über eine Verfassungsreform in der Türkei. Der Wahlkampf hat inmitten einer Repressionswelle beispiellosen Ausmaßes gegen unabhängige Medien stattgefunden. Deshalb konnte die von der Regierung vorgeschlagene und für die politische Zukunft des Landes entscheidende Reform nur völlig unzureichend öffentlich diskutiert werden (http://t1p.de/hrhv).
Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Türkei auf Platz 157 von 180 Staaten. Weitere Informationen über die Lage der Journalisten vor Ort finden Sie unter www.reporter-ohne-grenzen.de/türkei.
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Reporter ohne Grenzen
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